Träger von schütterem Haupthaar

haben ja quasi immer Open Air, von daher hatte ich es nicht so eilig, nach Lieme zum Lippe Open Air 2016 zu kommen. Außerdem ist man als gefühlter Jet-Setter samstags vor 14 Uhr natürlich gejetlagt.

Die Wetteraussichten erschienen mir heiter bis wolkig, weil ich vermutlich noch immer leicht angeheitert war. Und das, obwohl ich der freitäglichen DJ-Eröffnungsparty nicht nur geistig fern blieb.

Geistig fern schienen auch die körperlich Anwesenden, als ich das Anwesen betrat. Mittlerweile war es nach acht, was die Crew aber nicht davon abhielt, die vollen 15 Euro im Tausch gegen ein läppisches Stoffbändchen zu wollen.

Ich fühlte mich ein bisschen wie Jesus, weil mein Nervenkostüm der Riege der Live-Bands nicht mal ansatzweise gewachsen schien. Im Halbdunkel hinter der Kasse stellten sie vermutlich gerade mein Kreuz auf, als ein Mittzwanziger mir sein halbes Ticket für 10 Mücken anbot.

Mücken gab`s hier mehr als genug, daher griff ich zu.

Die wenigen Bands aus der Region, die ihre eigenen Songs spielten, hatte ich eh schon weit vor dem Abendessen bis auf eine vorsätzlich verpasst, was ganz gut passte, weil das auch für mein Abendessen galt.

Zu den Klängen von Mandowar zog ich in die Arena ein. Metal mit Mandoline, Bäuchen und komischen Hüten. Gottes Acker hatten sie hier wörtlich genommen und so stolperte ich die Bierbuden ab, deren Betreiber vermutlich am Vortag gemeinschaftlich einen Sattelzug mit Herforder Pils in eine dunkle liemer Seitenstraße gelockt hatten.

Den klitzekleinen Warsteiner-Stand vom Überfall letztes Jahr hatten sie unsichtbar in der hintersten Ecke geparkt. Und selbst dort bestand die Hälfte der Karte aus Herforder. Allerdings konnte ich die Wertmarken-Verkäuferinnen nicht vom Wert der Mücken überzeugen.

Alles richtig gemacht, dachte ich: Gerade so an der Bon-Jovi-Coverband vorbeigeschrammt, musste ich jetzt nur noch vor der bulgarischen Guns’n’Roses-Coverband dem Schlachtfeld entkommen.

Das Dazwischen entpuppte sich als gelungener Fluchtversuch einer handvoll Betty-Ford- Insassen in bunten Fetzen, die Coverversionen von Bon Jovi und Guns’n’Roses spielten.

Die gaben neben einer ganz schlimmen Poser-Attitüde auch noch andere Sachen zu Protokoll, die dem Protokoll ein weiteres Cola-Bier abverlangten. Das ist jetzt geschönt. Eigentlich hätte der Protokollführer hier schon bis zum Hals in Schnaps stehen müssen, aber dummerweise war er mit dem eigenen Auto da.

Der Lichtblick des Abends waren deren Cheerleaderinnen, die sie selbst aber wohl nicht gesehen haben dürften, weil sie von den glänzenden Augen des männlichen Publikums so geblendet waren, dass sie ihre Sonnenbrillen die ganze Zeit aufbehalten mussten.

Das Publikum an sich hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon großflächig geistig in den Sonntag verabschiedet und bestand in der Mehrzahl aus junggebliebenen Altgewordenen. Hin und wieder huschten auch Menschen vorbei, die noch mehr als 20 Tage Urlaub im Jahr haben.

Die jungseienden Altwerdenden hatten vielleicht schon am Vortag ihr Taschengeld mit Calzone verjuxt oder waren schon am heutigen Nachmittag kurz vor der Tex-Mex-Bude auf der Strecke geblieben.

Eine Currywurst später wurde Europes Final Countdown angestimmt und es war an der Zeit, die drängenden Probleme unserer Generation zu lösen.

Dazu stand rechts neben den Bühnen versteckt eine Installation bereit, deren System ich auch nach mehrminütigem Studium nicht zu durchschauen vermochte.

Links stand der mittlerweile umgebaute Herforder-Sattelzug, auf dessen Treppe sich hoch über uns die weibliche Laufkundschaft drängte. Rechts daneben ein halb so hoher mickriger zweitüriger Anhänger, allerdings ohne die zwei Türen, so dass man die männliche Kundschaft der linken Kammer an der Pissrinne arbeiten sehen konnte.

Jede der zwei Anhänger-Kammern hatte zusätzlich eine abschließbare Kabine, daher bekam die rechte auch Damenbesuch. Rechts neben dem kleinen Hänger verschwanden hin und wieder Menschen unbekannten Geschlechts hinter einem geschützten Zaun.

Dann ging ein wankender Herr die Treppe des Sattelzugs hoch, an den Damen vorbei und verschwand im rechten Teil, was mich zur Kommunikation mit dem Kassenwart zwang.

„Links oben ist Damen und ein kleines Herrenabteil, in der Mitte auch und hinter dem Zaun Freiluftpinkeln für alle. Wir machen Vorkasse, 50 Cent.“

So was in der Art hatte ich mir irgendwie schon gedacht. Aber mein Pegel war noch nicht auf eine derartige Logik abgestimmt.

Die Betty-Ford-Delegation hatte mittlerweile mehrfach ihren letzten Song gespielt und Erlösung versprochen. Weil es so ein fucking greater Abend sei. Man solle nur mal to the left and to the right gucken, um all die coolen people zu sehen.

Es war tatsächlich ein bisschen kühl geworden, aber die kurzärmeligen people to the left and the right konnte ich beim besten Willen nicht mit great fucking in Verbindung bringen.

Dann krächzte von der linken kleineren Bühne ein langhaariger Bombenleger rüber, dass deren Sänger gerade hinter der Bühne einem medizinischen Notfall erlegen sei, aber keine Gefahr für die Bevölkerung bestünde.

Eine glatte Lüge, denn er wolle sich der Sache annehmen. Wahrscheinlich war bloß das Crack alle. Dem Krächzen nach hatte er die Ansage wohl schon ununterbrochen seit seiner Geburt geprobt, aber ich will da nichts unterstellen.

Immerhin hatten die Jungs neben tief fliegenden Lollys und Schnaps auch selbstgemachte Lieder im Angebot. Schwer zu sagen, was davon die größere Gefahr darstellte.

Im Anschluss musste ein kleines Zeitfenster überbrückt werden, bis die Bulgaren startklar waren, so dass ich es fast unbehelligt bis zum Ausgang schaffte. Ob derweil auch das Mischpult überbrückt werden musste, war mir nicht mehr so wichtig.

Zum Glück hatte man ein Einsehen und verwechselte die Regler für Haupt- und Nebenmikrofone, so dass ich die Kasse weit hinter mir lassen konnte, bevor der Frontmann hörbar Gelegenheit bekam, zum letzten Schlag gegen die verbliebenen Geschmacksknospen auszuholen. Was auf den letzten Metern fast noch durch die natürlich viel zu lauten Background-Schreier vereitelt worden wäre.

Es geht doch nichts über ein bisschen frische Luft.

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