Wie Technologie unseren Verstand gefangen nimmt

 

 

 

(Anm.: Dies ist eine recht freie Interpretation des englischen Textes "How Technology Hijacks People’s Minds — from a Magician and Google’s Design Ethicist" von Tristan Harris. Übersetzt, kommentiert, interpretiert + bearbeitet von Oliver Schaier)

 

Geschätzte Lesezeit: 10 Minuten.

 

 

 

 

 

 

 

Benutzt man Technologie, sieht man oft nur das Glitzern und merkt gar nicht, wie oft die Schwachstellen unserer Frikadelle dabei ausgenutzt werden.

 

Magier benutzen tote Winkel, tote Katzen, Kanten, Schwachstellen oder Grenzen der Wahrnehmung, so dass sie beeinflussen können, was Leute machen, ohne dass die das merken. Außer vielleicht bei der toten Katze.

 

Produkt-Designer wenden nicht nur tote Katzen, sondern auch folgende Techniken bewusst oder unbewusst gegen uns an, um unsere mickrige Aufmerksamkeit zu binden:

 

 

 

#1: Wenn du das Menü kontrollierst, kontrollierst du die Auswahl

 

 

Sie geben uns die Illusion der freien Wahl, während sie das Menü so aufbauen, dass wir immer die tote Katze kriegen, egal was man wählt.

 

Niemand fragt sich,

 

- was nicht im Menü ist.

- warum ihm diese tote Katze gegeben wurde und keine andere.

- ob er die Ziele des Menü-Erbauers kennt.

- ob das Menü seine Bedürfnisse befriedigt oder eher davon ablenkt.

 

Will man den Streit mit Freunden irgendwo nett vertiefen und wirft eine App an, um eine brauchbare Bruchbude zu finden, wird aus uns ein Rudel beleuchteter Fressen, die reglos auf ihre Schirme starren.

 

Und aus einem "Wo können wir uns nett weiterstreiten" schnell ein "Welche Bar hat schlechte Fotos von Cocktails".  Alles durch die Menü-Gestaltung.

 

Ist dieses Menü noch relevant für die ursprüngliche Absicht?

 

Dabei erliegt man schnell der Illusion, die App würde eine komplette Auswahl der Möglichkeiten bieten und während man weiter auf den Schirm starrt, übersieht man die Schlägerei im Park gegenüber oder die nackte Frau.

 

Die App interessiert sich nämlich nicht für nackte Frauen.

 

Je mehr Auswahl wir bei der Lebenszeitverschwendung vorgesetzt kriegen, je mehr denken wir, dass unser Telefon immer die nützlichste Auswahl bietet.

 

Nochmal: Unser Telefon.

 

Die nützlichste Auswahl unterscheidet sich aber von der Auswahl mit den meisten Möglichkeiten.

 

Wachen wir morgens auf, erwartet uns schon eine Horde Benachrichtigungen und aus unserem Aufwachen wird ein "Was du alles seit gestern verpasst hast, du Blödmann". Wie nützlich ist diese Auswahl morgens? Zeigt sie das, was uns wirklich wichtig ist?

 

Wenn ja, dann zeigt sie das jedenfalls nicht lange. Niemand nennt mich vor dem ersten Kaffee einen Blödmann.

 

Außer meiner Frau.

 

Durch den Aufbau des Menüs (aus dem wir wählen) wird die Art, wie wir unsere Auswahl-Möglichkeiten wahrnehmen manipuliert. Die Auswahl-Möglichkeiten werden durch neue Auswahl-Möglichkeiten ersetzt.

 

 

 

#2: Steck eine Slot-Maschine in eine Milliarde Taschen

 

 

Wie kriegst du die Leute an die Nadel, wenn du eine App bist? Verwandel dich in einen Sack Heroin.

 

Der normale Junky checkt sein Telefon 150 Mal am Tag. Warum? Trifft er 150 bewusste Entscheidungen?

 

Kaum. Denn der normale Junky checkt nicht mal 150 Mal am Tag seine Armbeuge. Aber sei`s drum.

 

Einer der Hauptgründe dafür ist angeblich die Nummer 1 unter den psychologischen Zutaten von Slot-Maschinen: Sporadisch wiederkehrende variable Belohnungen.

 

Will man maximales Suchtverhalten, muss man bloß eine Handlung des Benutzers mit einer variablen Belohnung verknüpfen. Du drückst bloß das Knöpfchen und kriegst sofort entweder dein Chappi oder nix.

 

Am schlimmsten ist es, wenn die Höhe der Belohnung am unterschiedlichsten ist.

 

Die schlechte Nachricht ist: Dummerweise habt ihr fast alle so ein Ding in der Tasche.

 

Eure Belohnungen sind neue Benachrichtigungen, neue E-Mails, neue Fotos, neue Bekanntschaften.

 

Apps und Webseiten bombardieren euch mit ihren variablen Belohnungen, weil es gut für den Chappi-Absatz ist. Manches davon ist allerdings eher ein Unfall gewesen und nicht gewollt. Böse Zungen behaupten, dass gerade Chappi genau so entstanden ist. E-Mails wurden aber vermutlich eher nicht von der Glücksspiel-Industrie erfunden.

 

 

 

#3: Die Angst, irgendwas Wichtiges zu verpassen

 

 

Die 1%ige Chance, dass man etwas verpassen könnte, rettet Fickbuch und Konsorten bisher zuverlässig den Arsch.

 

Wenn ich dich davon überzeuge, dass ich ein wichtiger Kanal für wichtige Informationen, Nachrichten, Freundschaften oder potenzielle sexuelle Gelegenheiten bin, kannst du mich nur schwer abschalten, weil - du könntest ja was verpassen.

 

Lassen wir kurz wichtige Kanäle für sexuelle Gelegenheiten an unserem geistigen Auge passieren und überlegen, ob wir mit solchen Leuten tatsächlich zu tun haben wollen.

 

Wegen dieser 1% abonnieren viele auch weiterhin Newsletter, obwohl die noch nie News geliefert haben, bleiben Freunde von Menschen mit komischen Bärten und arbeiten sich durch die Hackfressen von Dating-Apps.

 

Die gute Nachricht ist: Die Angst ist völlig begründet.

 

Wir werden immer irgendwas Wichtiges verpassen. Na und?

 

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

 

Die Angst des Verpassens existiert, bevor man den Stecker zieht, nicht hinterher.

 

 

 

#4: Gesellschaftliche Anerkennung

 

 

Das überzeugendste Argument seit geschnitten Brot. Jeder will sie, jeder braucht sie, doch leider musste der Bäcker um die Ecke den Discountern weichen.

 

Wenn ein Freund euch auf einem Bild bei Fickbuch markiert, ...ist er vermutlich nicht mehr euer Freund. Aber darum geht es hier nicht. Ihr denkt „Was für ein blödes Arschloch“, weil dies seine bewusste Entscheidung war. Ihr seht nicht, wie die Handlanger vom Butterberg ihm an den Po gefasst haben.

 

Es war nicht seine unabhängige Entscheidung, er war nur die Nötigungsversuche der Handlanger leid.

 

Es liegt in deren schmierigen Händen, wie oft jemandem online gesellschaftliche Anerkennung zuteil wird. Sie entscheiden, wie lange euer neues Profil-Bild in der Timeline belacht werden kann.

 

 

 

#5: Gesellschaftliche  Gegenseitigkeit

 

 

Du tust mir einen Gefallen - ich schulde dir einen.

 

Unser Sinn für Verpflichtungen, bzw. wohl manchmal auch eher unser Verlangen nach Erwiderung oder Vergeltung wird hier schamlos ausgenutzt.

 

Je mehr Vergeltung, desto länger bleibt man vor Ort und kann mit Werbung belästigt werden. Und mit Nötigungen für immer neue Vergeltungsmaßnahmen, bis alle rumlaufen wie Hühner mit abgeschlagenen Köpfen, um der Sache irgendwie Herr zu werden.

 

Schlägt man dieser Hydra den Prengel ab, wachsen gleich vier neue.

 

 

 

#6: Bodenlose Schüsseln, unendliche Versorgung und Autoplay

 

 

YouTube spielt von Haus aus nach einem Countdown automatisch das nächste Video. Ob man das sehen will oder nicht.

 

Gibt man Leuten Suppenschüsseln ohne Böden, die sich automatisch selbst wieder auffüllen, kann man die Leute dazu bringen, 73% mehr Kalorien in sich rein zu löffeln als bei einer normalen Schüssel. Behauptet zumindest ein Herr Professor in einer Studie.

 

Nachrichten-Ticker haben selten Böden und funktionieren genau so. Man scrollt, bis man alt und grau ist.

 

Da bleibt die eine oder andere Nudel schon mal im Bart hängen.

 

Und Nudeln sind auch gekocht eine harte Währung.

 

 

 

#7: Sofortige Unterbrechung vs. Respektvolle Lieferung

 

 

Sofortige Unterbrechungen bringen Leute viel eher auf die Palme als ein zugestaubtes Postfach.

 

Arschlöchrigkeit siegt über den Respekt vor anderer Leute Aufmerksamkeitsspannen.

 

Alles sieht total dringend aus; und dem Absender wird sofort gepetzt, dass man die Nachricht schon vor Stunden gelesen habe, damit man auch ja nicht denkt, man könne vorher noch eben die Leiche verschwinden lassen.

 

Zum Glück wird die permanente Arschlöchrigkeit für die Arschlöcher zwangsläufig nach hinten losgehen.

 

 

 

#8: Die Bündelung unserer Motive mit deren

 

 

Man nehme unsere edlen Motive zur Nutzung einer Technologie (irgendwas gebacken zu kriegen) und verpacke sie untrennbar mit den niederen Motiven der Anbieter (Maximierung unseres Konsums bis zum Gerichtsvollzieher).

 

Wir wollen bloß die tote Katze, müssen dafür aber durch den ganzen Markt latschen.

 

 

 

#9: Lästige Auswahl

 

 

Uns wird weisgemacht, dass es genug sei, wenn Anbieter sich dazu herablassen, uns eine Wahl zu bieten.

 

Wenn es dir hier nicht passt, geh doch woanders hin.

 

Anbieter erleichtern uns die Entscheidung, uns für ihren Scheiß zu entscheiden. Die Entscheidung für irgendeinen anderen Quatsch wird uns im günstigsten Fall nur erschwert.

 

Man hat doch die freie Wahl, ob man das Abo kündigt. Man müsse nur das Knöpfchen drücken. Statt der Kündigung hagelt es dann eine 400-seitige Aussicht, für was man alles verklagt wird, sollte man es tatsächlich wagen.

 

Falls ihr euch unbedingt ein Brett vor den Kopf tackern wollt, hier eine mögliche Inschrift: Nicht die Verfügbarkeit von Wahlmöglichkeiten ist entscheidend, sondern der Aufwand, den man zur Befriedigung seiner Bedürfnisse betreiben muss.

 

 

 

#10: Fehler-Prognose, “Fuß in der Tür”-Strategie

 

 

Beherrscher der Technologie nutzen auch gerne die Unfähigkeit der Leute aus, die Konsequenzen eines Klicks vorherzusehen.

 

Verkäufer haben da nur mal eine kleine unschuldige Frage und 10 Minuten später fährt man mit seinem neuen Kühlschrank nach Hause.

 

 

 

 

FAZIT:

 

Lässt man sich von all dem nicht beeindrucken, gibt es noch immer einen ganzen Mainframe voll anderer Techniken, die wir aber schon gar nicht mehr wissen wollen.

 

Doch halt! Wo bleibt denn die Block-Chain? Scheiß auf die Block-Chain.

 

Nur so viel: Wenn ihr das nächste Mal mit nur einem Klick Berge versetzen können sollt, haltet euch mit dem Visitenkartendrucken zurück.

 

Für den Propheten-Status müsst ihr erst das dreiseitige Formular ausfüllen.